Jennifer B.

Jennifer kam mit 14 Jahren in die Beratung der Mitternachtsmission.

Der erste Kontakt zu einer Mitarbeiterin wurde durch die Betreiberin eines Erotic Clubs hergestellt, die Jennifer im Winter nachts vor der Tür ihres Clubs angetroffen hatte.
Jennifer war nur sehr unzureichend für die Witterung bekleidet, verfroren und verweint mit verschmiertem Make Up und ohne Geld.
Die Clubbetreiberin gab ihr etwas Heißes zu trinken und benachrichtigte eine Mitarbeiterin der Mitternachtsmission, die kam und Jennifer mitnahm.
Jennifer konnte in der Beratungsstelle heiß duschen, bekam ein warmes Essen und neue saubere Kleidung.
Sie verließ die Beratungsstelle am Morgen wieder, weil sie sich noch nicht entscheiden konnte, Hilfe anzunehmen.
Im Laufe von einigen Wochen, in denen wir zunächst nur ihren Namen wussten, fasste sie Vertrauen.

Nach und nach erzählte sie ihre folgende Geschichte:
Mit 10 Jahren war sie zum ersten Mal von zu Hause ausgerissen, weil der alkoholkranke Vater sie, die Mutter und andere Geschwister schlug.
Sie schlief nachts in einer Toreinfahrt und hielt sich tagsüber in Kaufhäusern und am Bahnhof auf.
Gegessen hat sie, was sie in Lebensmittelläden, bei Bäckern und auf den Wochenmärkten stehlen konnte.
Nach einigen Tagen wurde sie beim Ladendiebstahl in einem Kaufhaus erwischt und durch die Polizei dem Jugendamt übergeben.
Die Familie hatte Jennifer noch nicht als vermisst gemeldet.
Das Jugendamt brachte Jennifer für einige Zeit im Heim unter und stellte den Kontakt zu den Eltern wieder her. In der nachfolgenden Beratung durch das Jugendamt trennte die Mutter sich vom alkoholkranken Vater und Jennifer ging zurück zu ihr und den Geschwistern (zwei Brüder: neun und zwölf Jahre).
Die Mutter hat sich sehr bemüht, den Rest der Familie zusammen zu halten und Geborgenheit zu vermitteln. Die finanzielle Situation war sehr schlecht und es gelang der Mutter nicht, mit ALG II auszukommen. Sie hatte auch keinen guten Kontakt zu den dort arbeitenden Mitarbeitern weil sie sich schämte, Sozialhilfe zu bekommen und jede Nachfrage nach Belegen als persönliche Schikane auffasste.

Nach einiger Zeit konnte die Mutter eine Arbeit in der Gastronomie annehmen und für eine Weile lief das Familienleben durchaus liebevoll ab. Der Bruder der Mutter, ein Frührentner, blieb häufig nachts in der Wohnung damit die Kinder in der Abwesenheit der Mutter nicht unbeaufsichtigt waren. Hier kam es dann durch ihn zu ersten sexuellen Übergriffen an allen drei Kindern.
Der Onkel fotografierte die Jungen unbekleidet und in pornografischer Darstellung. Jennifer (inzwischen 11 Jahre alt) musste zusehen und wurde durch Drohungen gezwungen („..wenn Du das nicht machst, komme ich
nicht wieder und Deine Mutter kann nicht mehr arbeiten. Dann ist es aus mit Taschengeld und Ihr müsst alle ins Heim“) die Geschlechtsteile der Brüder in den Mund zu nehmen oder manuell zu manipulieren.

Hinterher gab es zunächst Belohnungen wie Geschenke und Vergünstigungen (Kino, Ausflüge, Schwimmbad, etc.) Nach einiger Zeit als die Kinder immer unwilliger wurden und sich den Forderungen nicht mehr fügen wollten, wurden die Drohungen verstärkt und es kamen körperliche Misshandlungen (auch im Genitalbereich) hinzu.

Als Jennifer 12 Jahre alt war vergewaltigte sie der Onkel zunächst sporadisch und dann regelmäßig. Einige Male fesselte er die Brüder mit Handschellen an das Bett während er Jennifer vergewaltigte und wollte danach dabei zusehen, wie auch die Brüder Jennifer vergewaltigten. Da die Brüder keine Erektion bekamen mussten sie Jennifer mit Kleiderbügeln und einen Kochlöffel vaginal traktieren.

Alle drei Kinder versuchten über Monate mehrere Male sich der Mutter anzuvertrauen, die aber nicht verstand, worum es ging, da die Kinder keine Einzelheiten preisgaben, sondern nur sagten „der Onkel sei immer so komisch und täte ihnen manchmal weh“. Die Mutter sprach mit dem Onkel darüber, dem es völlig gelang, die Mutter einzuwickeln und die Kinder (die auch der Mutter als zunehmend schwierig erschienen) als „aufmüpfig und frech“ bezeichnete und zugab, „ihm sei schon mal die Hand ausgerutscht“. Er drohte auch damit, seine „Hilfe“ einzustellen, wenn der Mutter sein „Erziehungsstil“ nicht gefiele.
Die Mutter hat ihm dann völlig freie Hand gegeben. Auch als einmal die Nachbarin Kontakt zur Mutter aufnahm und sagte, dass die Kinder häufig weinten, wenn der Onkel da war und Jennifer dann immer „so schrill schreien würde“ tat die Mutter das als „hysterisches Getue“ ab.

Jennifer bezeichnet diese Zeit als „reine Hölle“ und kann nicht verwinden, dass ihr niemand geholfen hat und dass sich auch die Brüder gegen sie wendeten und sie nicht schützten.
Als der Onkel dazu überging seine Freunde mitzubringen, die sich erst ihre „private Pornoshow“ mit den Kinder ansahen und dann Jennifer zu demütigenden sexuellen Handlungen zwangen lief Jennifer mit dreizehn Jahren wieder von zu Hause weg.
In der Zwischenzeit waren auch die Brüder dazu über gegangen, Jennifer zu vergewaltigen während die Kumpel des Onkels zusahen. Der Onkel kassierte dafür bei seinen Bekannten Geld und bekam andere Gefälligkeiten, wie z.B. einige Autoreparaturen, Renovierungsdienste, Spirituosen und Zigaretten.

Jennifer hielt sich nach ihrem Fortlaufen (das wieder nicht bei der Polizei und dem Jugendamt gemeldet wurde) auf der Strasse auf und bekam Kontakt zu einer Gruppe Jugendlicher, die in Kaufhäusern stahlen, Autos aufbrachen und der Prostitution nachgingen. Sie alle lebten in der großen Altbauwohnung eines etwa 50jährigen Mannes, der „Paul“ genannt wurde. Sie konnten dort schlafen und sich waschen.

Auch gab er ihnen zu Essen, wenn sie nichts hatten. „Paul“ nahm die gestohlenen Gegenstände entgegen und brachte sie zu Hehlern. Das durch Prostitution verdiente Geld, wurde zum Teil an ihn abgegeben, er wandte aber nie Gewalt oder Drohungen an, um Geld zu bekommen.

Die Kinder und Jugendlichen gaben ihm das Geld freiwillig, weil es ihm gelang zu suggerieren, „sie seien alle eine große Familie und müssten füreinander sorgen“.
Es gab auch Lob und Anerkennung für besonders gute Einnahmen. Auch sorgte „Paul“ dafür, dass die Älteren die Jüngeren nicht quälten sondern beschützten und dass die Jungen keine Gewalt an den Mädchen ausübten. Wer das versuchte, flog sofort raus.
Für Jennifer war das, obwohl sie sich prostituierte, die „schönste Zeit ihres Lebens mit einem richtigen Zuhause“.
Als die Polizei verstärkt gegen Hehler vorging, geriet „Paul“ mit ins Netz und kam für einige Zeit in U-Haft. Da die Miete für die Wohnung nicht mehr gezahlt wurde und auch die Disziplin der Gruppe ohne ihn zerfiel, kam es zur Trennung. Für einige Zeit blieben noch die ältesten Jungen in der Wohnung, die völlig verrottete und dann geräumt wurde.

Jennifer wurde in einer Disco von einem jungen Türken angesprochen, der dort als Türsteher arbeitete. Er schlug ihr vor, in einem türkischen Café hinter der Theke zu arbeiten. Das tat sie für einige Tage und wurde dann durch den Betreiber des Cafés der Prostitution mit den Gästen zugeführt.

Einer dieser Gäste, „King“ genannt, war immer sehr nett zu ihr und überredete sie, zu ihm zu ziehen und auf der Strasse zu arbeiten. Sie gab alles Geld bei ihm ab und er versorgte sie mit Essen, Kleidung und Unterkunft und versprach sie zu heiraten, wenn sie sechzehn Jahre alt wäre.
Nach einigen Wochen kam heraus, dass „King“ schon verheiratet war und zwei kleine Kinder hatte. Jennifer lief ihm enttäuscht davon, wurde von ihm gefunden und grün und blau geschlagen.
Er verkaufte sie in eine andere Stadt, wo sie in einem sogenannten „Türkenpuff“ arbeiten musste. Hier bediente sie täglich zwischen 30 und 40 Kunden. Sie selber erhielt eine Pauschale von DM 50,-- pro Tag, davon musste sie 30,-- DM an „King“ abgeben, der sie weiterhin mit Nahrung und Unterkunft versorgte.
„King“ fuhr sie in das Bordell und holte sie ab. Meist schloss er sie in der Wohnung ein, wenn er nicht da war. Einige Male durfte sie mit ihm in die Stadt gehen und sich von „ihrem Geld“ was zum Anziehen kaufen.

„Kings“ Frau kam nach einigen Monaten mit den Kindern nach Deutschland und zog ebenfalls in die Wohnung ein. Sie war nicht einverstanden damit, dass Jennifer dort wohnte und dass „King“ von dem Geld aus der Prostitution profitierte. Sie benachrichtigte empört „Kings“ Eltern und der Vater kam und warf Jennifer aus der Wohnung und schlug seinen Sohn.

Danach war Jennifer wieder auf der Strasse und schon ziemlich verzweifelt. Kontakt zu Ämtern und Behörden wollte sie auf gar keinen Fall aufnehmen.
Nach einigen Tagen in völliger Verzweiflung und ohne festen Wohnsitz saß sie weinend vor der Tür des Erotic-Clubs, dessen Besitzerin dann die Mitternachtsmission benachrichtigte.

Es war eine schwere Arbeit, Jennifer zu helfen, Vertrauen in andere Menschen und die Zuverlässigkeit von Hilfeeinrichtungen aufzubauen.

Sie selber hatte ja z.B. mit dem Jugendamt gar keine schlechten Erfahrungen gemacht. Als sie als erstes Mal von zu Hause fortgelaufen war, hatte es dort Hilfe gegeben und die Situation hatte sich nach der Beratung durch das Jugendamt für einige Zeit stark verbessert.

Auch die Polizei wurde von ihr nur mit beleidigenden Worten bedacht. Unseres Erachtens lag das daran, weil in der Wohngemeinschaft um „Paul“ große Angst vor den „Bullen“ herrschte und immer gefürchtet wurde, dass man beim Klauen erwischt werden könne. Außerdem ist die als Idylle erlebte Zeit mit „Paul" ja bei seiner Verhaftung durch die Polizei zerbrochen.
Sie sagte auch, „die Bullen und die Heinis vom Jugendamt hätten ihr ja nie geholfen“. Dass sie auch weder zum Jugendamt noch zur Polizei gegangen ist und um Hilfe gebeten hat, spielt für sie dabei keine Rolle. So als hielte sie beide für magische, übergeordnete Instanzen, die alles wissen und zu ihrem Wohl eingreifen müssten. Wenn sie das nicht tun, sind sie „Schweine“.

Immer wieder erwartete sie, dass sie von den Mitarbeiterinnen der MM fallen gelassen werden würde, oder „ausgetrickst“. Damit meinte sie, dass die Helferinnen gegen ihren Willen Schritte unternehmen könnten, die sie in ein Heim oder zu ihrer Mutter zurück bringen würden.
Ihre Handlungsweisen und Reaktionen waren schwer nach zu vollziehen und nicht vorhersehbar. Manchmal benahm die jetzt Sechzehnjährige sich wie ein kleines Kind, wollte in den Arm genommen werden und weinte bitterlich. Dann wiederum drohte sie „allen in die Fresse zu hauen“, warf sich auf den Boden oder trat vor Möbel, beschimpfte ohne ersichtlichen Grund die Mitarbeiterin oder knallte beleidigt die Tür und verschwand ohne ein Wort.
Das war eine harte Zeit und oft genug hatten auch die Helferinnen „die Nase voll von Jennifer“.

Das liegt nun alles eine ganze Weile zurück. Jennifer und wir haben durchgehalten.
Es gelang in Kooperation mit dem Jugendamt, das jetzt „ganz in Ordnung“ für Jennifer ist, einen Platz in einer Wohngruppe zu bekommen. Sie geht inzwischen wieder zur Schule und möchte den Realschulabschluss machen und sie ist in einer Gesprächstherapie zur Aufarbeitung insbesondere ihrer Gewalterlebnisse.

Ende gut - alles gut?? Nein noch nicht. Es passiert hin und wieder, dass Jennifer abends wegbleibt, manchmal betrinkt sie sich und spuckt ein Polizeiauto an.
Manchmal ist die Mitarbeiterin der Mitternachtsmission nachts unterwegs, um sie aus eine Disco zu holen, weil der Discobetreiber anruft und sagt, dass Jennifer angefangen hat, das Mobiliar zu zerschlagen. Dann ist sie auch nicht zimperlich mit den Ausdrücken, die sie der Mitarbeiterin an den Kopf wirft.
Aber solche Vorfälle werden seltener und vor einiger Zeit hat sie angerufen und uns gebeten, ihr zu helfen, die binomischen Formeln zu verstehen.
Endlich mal etwas, das wir tun können, während wir im Warmen auf einem Stuhl sitzen und Kaffee trinken.

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